Der Mensch als digitales Datenblatt

«Guten Tag, ich habe eine Frage zur Abrechnung vom letzten Monat.»
«Gerne, wie lautet Ihre Handynummer?»

Der Moment, in dem Sie sich jedes Mal gleich zu Anfang des Telefonats mit einer x-beliebigen Hotline fragen, warum Sie vor weniger als einer Minute Ihre Nummer überhaupt mühsam eintippen mussten, nachdem eine Computerstimme Sie dazu aufgefordert hatte. Aber mit einer schnippischen Bemerkung riskieren Sie nun, den Besitzer der Stimme am anderen Ende der Leitung zu verärgern – daher:

«Ja, gerne, meine Nummer lautet: …»
«Danke, worum geht es, bitte?»
«Ich habe Fragen zur Abrechnung.»
«Hier steht, dass Sie die Korrespondenz auf Italienisch wünschen.»
«Möglich, ja, aber ich würde das jetzt gerne auf Deutsch mit Ihnen besprechen.»

Es folgt ein kurzer Moment der Stille und des Innehaltens über die Frequenzen der modernen Mobiltelefonie.

«Sie haben angegeben, dass Sie die Korrespondenzsprache auf Italienisch wünschen.»
«Möglich, aber …»
«Ich kann kein Italienisch.»
«Aber ich rede doch gerade Deutsch mit Ihnen?»
«Hier steht, dass Sie auf Italienisch korrespondieren möchten …»
«Das ist jetzt aber nicht wahr, oder?! Ich rede doch Deutsch mit Ihnen …?»
«Ich kann kein Italienisch.»
«Ich will das auf Deutsch …»
«Ich verbinde Sie mit einem Italienisch sprechenden Mitarbeiter.»
«Ich will aber ni …»

Tüüt, tüüt, tüüt …

«Buongiorno, come posso aiutarla?»
«Buon dì, ma io non volevo discutere il mio problema in italiano…»
«Ah, kas problem, mir chönd das au uf Schwiizerdütsch lösä.»

Ich weiss nun, dass eine menschliche Stimme nicht zwingend bedeutet, dass ein Mensch mit einem redet, und dass einem Deutsch nichts nützt, wenn man als Korrespondenzsprache Italienisch angegeben hat.

Die Moral?

Ich wäre gerne wieder ein Mensch und weniger ein digitales Datenblatt.

Die wahnwitzige «Cc»-Manie.

Früher war nichts besser, aber anders. Technologischer Fortschritt führt zu Vereinfachungen.

Als man in einer Welt vor unserer Zeit noch mit Durchschlagpapier auf der Schreibmaschine arbeitete, war eindeutig definiert, wer das Originalblatt und wer den Durchschlag («Cc»!) erhielt: das Original an den Menschen, der etwas tun musste, und die «Karbonkopie» an die Leute, die das zu wissen hatten. (Die Auswahl der Verben im vorangehenden Satz ist nicht zufällig!)

Das E-Mail hat diese Regel pulverisiert.

Denn offenbar schalten nicht nur Katzenbilder, Pornoseiten, Aufforderungen zu Geldüberweisungen oder Klickköder das Gehirn ab: Die E-Mail-Funktionen «Cc» und die obskure Blindkopie («Bcc»!) scheinen die Sauerstoffzufuhr ebenfalls negativ zu beeinflussen. Diese Funktionen machen aus einfachen Erdbewohnern die übelsten Mailschleudern.

Es ist simpel: Im «An» adressierte Menschen fordert man direkt auf, etwas zu tun oder etwas zur Kenntnis zu nehmen, im «Cc» angeschriebene Leute müssen das (zusätzlich) wissen, und die im «Bcc» sollten besser einmal überprüfen, ob sie noch einen Puls haben!

Oder anders formuliert: Vom Empfänger von «An»-Mails wird eine Aktion erwartet, die dieser bei Annahme oder Vollzug am besten noch durch «Antworten» bestätigt; vom Adressaten im «Cc» wird keine Aktion oder Rückmeldung erwartet, offenbar aber soll die Person über die delegierte Aufgabe informiert werden. Der im «Bcc» soll … eigentlich gar nix.

Meistens steht im täglichen Mailverkehr nur eine Person im «An», denn dass die Arbeit gemacht wird, ergibt sich durch ein gesundes Arbeitsverhältnis und nicht über ein dutzendfaches Vermailen des Auftrages an «Cc»-Empfänger. Dieser abgesicherte «Ich-habe-es-beauftragt»-Modus ist lächerlich.

Ausnahmen? Klar, die gibt es.

Wahrscheinlich.

Von der Maschine zum Assistenten

Erinnern Sie sich an Namen wie «Archie» oder «Excite»? Gar an «Altavista», «Lycos» oder «Yahoo», die jahrelang den Suchmaschinenmarkt definierten und unter sich aufteilten?

Es gab tatsächlich einmal eine Welt ohne «Google»!

Das mag womöglich für junge Menschen eine ähnlich komische Vorstellung sein wie ein Telefon mit Wählscheibe, aber die grösste und erfolgreichste Suchmaschine der Welt startete in der Tat erst 1996 und war ab September 1997 unter dem heute bekannten Namen online.

Die damaligen «Suchmaschinen» haben mit modernen «Suchassistenten» etwa gleich viel Ähnlichkeit wie eine Kutsche mit einem 350-PS-Boliden. Wo es früher nur darum ging, Ergebnisse zu liefern, die den (potenziellen) Interessen des Anwenders entsprachen, erwarten Benutzer heute Antworten auf (Lebens-)Fragen. Suchmaschinen sind – in der Wahrnehmung – keine Maschinen mehr, sondern persönliche Assistenten: Sie wissen, wann der Regen einsetzt, kennen die beste Verbindung von A nach B, filtern das Web nach persönlichen Interessen und liefern auf so gut wie alle Fragen eine (scheinbar) plausible Antwort …

Wenn man Menschen beobachtet, die ins Telefon reden, bedeutet das nicht mehr zwingend, dass sie bekloppt sind oder aber telefonieren, sondern immer öfter, dass sie «Google & Co.» befragen.

Der Fortschritt bringt Veränderungen mit sich – ob gut oder schlecht sei dahingestellt.

Doch dass sich das Suchverhalten der Menschen verändert, sollte jedem Unternehmen bewusst sein, welches sich ein wenig mit seiner eigenen Auffindbarkeit im Internet beschäftigt: «Fragmentierung» ist dabei das neue Modewort – vereinfacht formuliert: Die Kunst, Informationen in verwertbare Einheiten zu stückeln, schafft Antworten, die Suchmaschinen geben.

Das ist für viele sicherlich die neue «Wählscheibe»!