Der Reisemensch und die Infomaschine.

Vor fast zwanzig Jahren bin ich nach Ghana gereist und habe meine damalige Freundin besucht. Sie nutzte ihren einjährigen Auslandaufenthalt, um ihre zweite Heimat, väterlicherseits, kennen zu lernen. Für mich war das ein Abenteuer: Afrika war mir unbekannt, Ghana suspekt, die Vorstellung in ein touristisch abgeschottetes Land zu reisen eine kleine Horrorshow. Dennoch war ich gut vorbereitet (und motiviert): Sibyls Familie informierte mich gewissenhaft über die Reise, das Land, die Leute, die Bräuche, das Geld und die richtige Verhaltensweise als „Obroni“ (weisser Mann). Den Flug buchte ich im Reisebüro, alle nötigen Impfungen waren gut schweizerisch durchgeplant und dann ging’s los. Nie wäre ich ohne all die wertvollen Informationen seitens der Familie und Freunde im Vorfeld nach Ghana geflogen.

Aber so war das damals: Das Internet war noch lange nicht in privaten Haushalten angekommen und die nötigen und gewünschten Informationen beschaffte man sich über Gespräche bei Verwandten und Bekannten oder liess sich im Reisebüro beraten. Prospekte, Kataloge, Reisebücher, Werbung im Fernsehen oder im Radio, die klassischen Sehnsuchtsanzeigen in Printtiteln – das waren früher Medien, die man nutzte, um sich zu inspirieren und zu informieren.

Heute ist das anders.

Zu schreiben, dass das Web allgegenwärtig ist, würde uns alle nur langweilen. Das Internet ist nicht mehr ein Begleitmedium, es ist zum Bestandteil des modernen Lebens – des „digital lifestyle“ – geworden. Dennoch sind trotz aller Technologien menschliche Entscheidungsprozesse unverändert geblieben: Nach einer ersten Anregung(sphase) folgt die Bekräftigung, dann der Beschluss und darauf aufbauend die Vorbereitung. Natürlich ist dieser – von J. W. Mundt (2001) in seinem Buch „Einführung in den Tourismus“ beschriebene – Reduktionsprozess empirisch wahrscheinlich nicht 100 % haltbar. Gleichwohl lassen sich damit Phasen beschreiben, die sich im heutigen Informationszeitalter komplett im Internet befriedigen und ausführen lassen.

Aber wie kam es überhaupt dazu?

Ab der Mitte des letzten Jahrhunderts entwickelte sich die Tourismusindustrie zu einem der grössten Wirtschaftszweige in der modernen Welt. Wikipedia nennt dabei unter dem Stichwort „Tourismus“ eine weltweite Umsatzzahl von 1030 Milliarden US-Dollar für das Jahr 2011. Solche Zahlen sind natürlich nur mit technischen Errungenschaften möglich. So entwickelte die Industrie längst in den 70er Jahren das CRS (Computer Reservation System) und der unaufhaltsame Erfolg der Computertechnologien erlaubte bereits in den schrillen 80er Jahren die Einführung des GRS (Global Reservation System): Das waren technische Innovationen, die das Fundament für die tiefgreifende Revolution der Tourismusbranche durch das Web legten. Mit dem rasanten Wachstum des Internets nahmen – getrieben durch ein verständliches Bedürfnis der „jungen“ Internetbenutzer – auch die ersten Suchmaschinen ihren Dienst auf. „Lycos“ startete im Juli 1994 und „Yahoo“ ging im selben Jahr online. Ein gutes Jahr später mischten weitere Konkurrenten den Markt auf, wobei „Altavista“ für lange (Internet-)Jahre international die Marktführerschaft übernahm. Ebendiese Suchmaschinen schufen ab der zweiten Hälfte der 90er Jahre ein überproportionales Wachstum an Datenverfügbarkeit herbei, welche ganz plötzlich allen Onlinesuchenden zur Befriedigung ihres Wissensdurstes zur Verfügung stand: Reisende konnten sich nun alleine und auf eigene Maus auf Informationssuche machen.

Modernes Reisen mit Hilfe der Maus und einer Tastatur.

Das Zusammenspiel von Informationstechnologien, dem Internet, der rasanten Zunahme von Websites und deren verbesserte Auffindbarkeit durch Suchmaschinen schaffen – wie Melanie Lustyk (2013) es in ihrem Buch „Einfluss des mobilen Internets auf das Kaufverhalten“ beschreibt – den „new tourist“. Da es nun zunehmend möglich wurde, gezielt selber und unabhängig von Ort, Zeit und Menschen nach Ideen und Anregungen zu suchen, (Reise-)Informationen zu durchforsten und die Reise und den Aufenthalt selber zu planen und zu organisieren, wurde der Entscheidungs- und Kaufprozess zunehmend und nachhaltig in die eigene Verantwortung verlagert.

Neue und innovative Technologien treten dann den Siegeszug an, wenn sie für Einzelpersonen oder Menschengruppen einen Mehrwert bedeuten. Ob der Mehrwert real oder nur gefühlt ist, macht dabei keinen entscheidenden Unterschied. Für den „new tourist“ ist der Mehrwert, den das Internet zu bieten hat, schlicht enorm: Er geht von dem subjektiven Gefühl der Eigeninitiative über die reale Vergleichbarkeit und Beurteilung von Angeboten über die Buchung bis zur publikumswirksamen Kritik nach der Reise. Die weiter oben genannten Entscheidungsprozesse waren damit bereits Ende der 90er Jahre im Internet plus/minus abgebildet und nehmen seit der Jahrtausendwende immer mehr an Verbreitung, Wichtigkeit und Akzeptanz zu.

Alte und neue Informationsquellen.

Dem Reisenden von heute steht eine fast unbeschränkte Anzahl an Informationsquellen zur Verfügung: So kann er auf klassische Quellen wie Berichte von Verwandten und Bekannten, Reisebüroauskünfte, Kataloge und Prospekte der Reiseveranstalter, Berichte in Print oder TV und natürlich Hotelprospekte weiterhin zugreifen oder aber er wird selber im Internet aktiv und informiert sich über verschiedenste Portale mit unterschiedlichen Informations- und Buchungsangeboten. Die Qual der Wahl – so schreibe ich ganz bewusst – steht dem Suchenden im Web bevor: Wo zuallererst die Frage im Raume steht, über welche Webplattformen man sich informieren möchte, so steht ganz am Ende die Frage nach dem Vertrauen zu den Anbietern und der Glaubwürdigkeit der gefundenen Informationen. Im Grundsatz lassen sich die Verfasser der angebotenen Quellen (nicht abschliessend und aus subjektiver Sicht) in Reisende, die auf eine Reise zurückblicken, Intermediäre (wie Reisebüro oder Reiseveranstalter) und Anbieter von touristischen Leistungen wie Hotels, Flüge, individuelle Vor-Ort-Veranstaltungen etc. einteilen. Dass es Überschneidungen gibt und unterschiedliche Absichten verfolgt werden, steht ausser Frage und soll an dieser Stelle auch nicht weiter thematisiert werden. Viel interessanter sind die unterschiedlichen Formen und die dabei eingesetzten Web-2.0-Technologien: Klassische Websites, Reiseportale, Unternehmens-, Personen- oder Reiseblogs, Freizeit- oder Business-Communities, Bewertungsportale für Reisende, Empfehlungssysteme, Wikis, Pod- oder Videocastings, Social Bookmarks, Feeds, Fotosharings etc. Dem „new tourist“ stehen somit fast zu viele Informationsquellen zur eigenen Verwertung bereit: Er kann sich über klassische Medien informieren oder aber mit wenigen Mausklicks Websites von Reiseveranstaltern, Reiseblogs oder Bewertungsportale angucken und dabei den Fokus auf seine individuellen Wünsche und Erfahrungen legen. Über Preisvergleichsportale lassen sich dann die Kosten kalkulieren und die Reise direkt buchen. Wie Annkathrin Wagner in ihrer Studie (Wagner & Brözel, 2010) richtig bemerkt, muss der „new tourist“ nicht mehr einem Prospekt, einem Katalog oder einem einzigen Reisebüroberater vertrauen, sondern kann sich (im abstrakten Sinne) auf eine kollektive Intelligenz des Internets verlassen. Das ist insofern wegweisend, weil dabei dem Nutzer – zum Beispiel – über Bewertungsportale Informationen geliefert werden, die er vielleicht (und fälschlicherweise) als nicht relevant betrachtet oder gar nicht erst danach gefragt hätte.

Web Dreinull

Die Herausforderungen für die Tourismusindustrie sind auch im Lichte des sich anbahnenden Web 3.0 – dem semantischen Internet – gewaltig. Dies betrifft nicht nur eine veränderte Ansprache potenzieller oder bestehender Kunden, sondern auch den Umgang mit einem veränderten Marktumfeld, welches sich schon lange nicht mehr einzig aus Unternehmens- und Marketingsicht beschreiben lässt.

Bereits im Jahr meiner Ghanareise – 1994 – war einigen brillanten Köpfen klar, dass die Informationstechnologien langfristig vom rein technischen Ansatz zu einem an den Menschen und den Beziehungen orientierten Ansatz wechseln müssen. Diese oft auch heute noch zitierte Idee stammt aber leider nicht von mir, sondern aus dem Buch „Marketing in the Information Revolution“ (Blattberg & Glazer, 1994).

Auch zukünftig werden die Reisenden selber bestimmen, welche Informationen für die Entscheidungsfindung relevant sind. Auf der Gewinnerseite stehen dann die Anbieter, die auf Augenhöhe kommunizieren, sich den berechtigten Kritiken zu stellen wissen und damit das Vertrauen der Reisenden gewinnen.

Wie im echten Leben.

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Blattberg, R., & Glazer, R. (1994). Marketing in the Information Revolution. (R. G. Robert C. Blattberg, Hrsg.) Michigan: Harvard Business School Press.

Lustyk, M. (2013). Einfluss des mobilen Internets auf das Kaufverhalten. Saarbrücken: AV Akademikerverlag GmbH & Co. KG.

Mundt, J. W. (2001). Einführung in den Tourismus. München, Wien: Oldenbourg Wissensch.Vlg.

Wagner, A., & Brözel, C. (2010). Tourismus und Internet. Berlin: uni-edition GmbH, Berlin.

Sturm der Entrüstung.

In der digitalen Welt nennt sich ein solcher Sturm „Shitstorm“ – ein Begriff, der von Sascha Lobo (dem einzigen Punk des gesellschaftskritischen Internets) mit dem Zusatz „aggressives Brainstorming“ versehen wurde. Nun liegt es nicht in meiner Natur englische Fachwörter im Raume bzw. in der Kolumne stehen zu lassen. Aber mein Verleger würde mir das übersetzte Sch-Wort zu Recht mit dem Hinweis auf den Respekt gegenüber den werten Lesern streichen. Beim Brainstorming hingegen handelt es sich nach Duden um ein „Verfahren durch Sammeln spontaner Einfälle die beste Lösung für ein Problem zu finden“.

Bleiben wir aber beim Sch-Wort und dem Respekt. Denn unterm Stich, um der Wahrheit die Ehre zu geben, geht es einzig um den Respekt gegenüber Mitmenschen. Was beim Autofahren nämlich die Windschutzscheibe und damit einhergehend das Gefühl in einer privatsphärlich-geschützten Eierschale zu sitzen, ist beim Internet der Bildschirm. Dahinter zu sitzen, so bildet man sich gerne ein, erlaubt einem in aggressiver Stimmung seinem Unmut freien Lauf zu lassen und dabei – wie beim Stinkefinger zeigen während der Autofahrt – von der Eierschale geschützt zu werden.

Nun hat aber die Eierschale einen einzigen Zweck: Sie dient biologisch der Erzeugung der Nachkommenschaft – der Küken. Das Schlüpfen zerstört die Eierschale; es ist folglich unumgänglich den eigenen Schutz preiszugeben, um auf die Welt zu gelangen und im wahrsten Sinne zu leben.

Für uns bedeutet dies nichts weiter, als dass nur dann eine Kritik im Internet berechtigt ist, wenn sie persönlich adressiert wird und der Kritiker sich zu erkennen gibt. Im Schutze einer löchrigen Anonymität zu wüten und zu „shitstormen“, ist einer vermummten Demonstration gleichzusetzen.

Und das ist respektlos.